L. Künzler: Anerkennung vor Umverteilung

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Title
Anerkennung vor Umverteilung. Zur sozialen Frage bei Jeremias Gotthelf


Author(s)
Künzler, Lukas
Published
Hildesheim 2020: Olms Verlag - Weidmannsche Verlagsbuchhandlung
Extent
780
Price
EUR 68,00
by
Markus Hofer

Akribisch spürt Lukas Künzler in seiner Dissertation den sozial ethischen und religiösen Überzeugungen des Lützelflüher Pfarrers und Schriftstellers Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf (1797 – 1854) nach, welche die Antriebsfeder für dessen Engagement im Armenwesen bilden. Um der facettenreichen Persönlichkeit des Geistlichen und der Wechselwirkung zwischen literarischem Schaffen und praktischem Kampf gegen die zunehmende Verarmung weiter Bevölkerungsschichten gerecht zu werden, verfolgt Künzler eine interdisziplinäre Herangehensweise: Er siedelt seine Arbeit im Grenzgebiet zwischen Literatur und Geschichtswissenschaften sowie der Theologie beziehungsweise Religionssoziologie an.

Im Zentrum der literarischen Untersuchung stehen Gotthelfs Sachschrift Die Armennoth (1840) sowie der von der Sekundärliteratur bisher eher stiefmütterlich behandelte Roman Käthi, die Großmutter (1847). Zusätzlich wertet Künzler eine Fülle von historischen Quellen aus, die es ihm erlauben, Bitzius als handelnden Akteur im Bereich des Armenwesens in das zeitpolitische Geschehen einzuordnen. Grosse Aufmerksamkeit widmet er zwei Umfragen, welche die Berner Regierung 1844 / 45 und 1854 / 55 an alle Gemeinden versandte in der Absicht, sich einen Überblick über das kommunale Fürsorgewesen und die soziale Problematik zu verschaffen. Anhand der ersten Erhebung rekonstruiert Künzler die Dimensionen der Armut am Beispiel der Gemeinde Sumiswald, die besonders stark unter der «Armennot» litt. Bei der zweiten Umfrage analysiert er die Antworten von acht nach ökologisch agrarwirtschaftlichen Kriterien ausgewählten Gemeinden der Amtsbezirke Trachselwald und Signau, um einen Einblick in die finanziellen Mittel, die Vergabepraxis und die Organisation der kommunalen Armenbehörden zu erhalten. Bitzius’ Positionen zeigen sich insbesondere in Akten und Briefen rund um die Armenerziehungsanstalt für Knaben im Amtsbezirk Trachselwald. Der Pfarrer von Lützelflüh gehörte zu den treibenden Kräften bei ihrer Gründung 1835 und spielte bis zu seinem Tod eine zentrale Rolle in der Verwaltungskommission der Anstalt. Als besonderes Bijou erweisen sich die Protokolle der Verwaltungskommission, die zum ersten Mal einer ausführlichen Analyse unterzogen werden und mit deren Hilfe sich die pädagogischen Grundsätze der Anstalt, die Diskussionsprozesse im Leitungsgremium sowie die Herausforderungen, die der Betrieb mit sich brachte, im Detail nachzeichnen lassen. Die quellenbasierte Herangehensweise bietet einen grossen Mehrwert gegenüber den älteren Arbeiten von Gerhard Gey1 und Reinhild Buhne2.

Wie Künzler aufzeigt, vertrat der Geistliche aus Lützelflüh die Ansicht, eine vollkommene Nivellierung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse sei weder möglich noch erstrebenswert. Armut habe es zu allen Zeiten gegeben und werde immer existieren. Allerdings interpretierte er das Anschwellen der Massenarmut und die durch den Pauperismus bedingte soziale Gärung als spezifischen Ausdruck des «Zeitgeistes», der im menschlichen Verhalten und den gesellschaftlichen Zuständen begründet sei. Heftige Kritik übte er insbesondere an den Eliten, die sich nicht am Gemeinwohl orientierten, sondern in erster Linie ihre Eigeninteressen verfolgten. Die Bekämpfung des Elends allein mit repressiven Mitteln – etwa durch die Schaffung von Zwangserziehungsanstalten oder eine forcierte Auswanderung – lehnte er ab. Bitzius wandte sich sowohl gegen die frühsozialistischen Theoretiker, die eine soziale Revolution propagierten, als auch gegen Vertreter eines malthusianisch geprägten Armendiskurses, welche die in Not Geratenen ihrem Schicksal überlassen wollten. Der weltanschaulich neutrale Staat, der auf einer kontraktualistischen Konzeption basierte und alle zwischenmenschlichen Handlungen auf «den Charakter eines wechselseitigen Vorteiltausches» (S. 603) reduzierte, verführte die Menschen gemäss Bitzius zu «einem eigennutzenmaximierenden Verhalten» (ebd.) und liess die für eine gerechte Gesellschaft notwendigen soziomoralischen Quellen der Solidarität, Humanität und Nächstenliebe versiegen. Einzig der christliche Glaube sicherte ihm zufolge die Kultivierung einer humanen Gesinnung mit freiwilliger Orientierung am Gemeinwohl, die im Rahmen einer moral economy eine gerechtere Ordnung hervorbringe und zu einer Verbesserung der Lage der Armen führe. Die Religion stellte für ihn den Schlüssel dar, um die Gesellschaft zu pazifizieren und die mit der Ungleichheit verbundene Ungerechtigkeit durch Nächstenliebe und verantwortungsbewusstes ethisches Handeln zumindest abzufedern. Dabei stand für Bitzius nicht die Umverteilung materieller Güter zugunsten der Armen im Vordergrund, sondern Anerkennung im Sinne sozialer Wertschätzung und Integration in die Dorfgemeinschaft anstelle der Marginalisierung. Parallel dazu forderte Bitzius von den Armen Demut und Selbstbeschränkung.

Künzler reiht Bitzius in überzeugender Weise in die Tradition republikanisch kommunitaristischen Gedankenguts ein und verortet ihn in einer philosophischen «Linie» mit Denkern wie Charles Taylor. Im Bereich der Armenfürsorge sprach sich der Geistliche und Schriftsteller für weitgehende kommunale Kompetenzen, eine lokale Fiskalautonomie, den persönlichen Kontakt zwischen den Sozialpartnern und eine nachhaltige Bewirtschaftung von lokalen Gemeingütern aus. Nicht allein die Begüterten sollten Verantwortung für die Lebensumstände der unteren Schichten übernehmen, vielmehr galt es, durch armenpädagogische Massnahmen auf lokaler und regionaler Ebene eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen. Diesem Zweck diente die Armenerziehungsanstalt im Amtsbezirk Trachselwald, mit der Bitzius der Ausbeutung der Verdingkinder einen Riegel vorschieben wollte und deren Konzeption gemäss Künzler im Umfeld der Kindergartenidee einzuordnen ist.

Bitzius’ Kritik am Rechtsstaat und seine Vorstellungen einer christlichen Tugendrepublik bieten, wie Künzler herausarbeitet, Anknüpfungspunkte an Positionen von Intellektuellen wie Ernst Wolfgang Böckenförde, William James, Hartmut Rosa, Charles Taylor und Elinor Olstrom. Die Studie zeigt eindrucksvoll auf, dass Gotthelf keineswegs ein verblendeter Reaktionär war, sondern vielmehr «an einem entscheidenden Ort der Moderne stand» (S. 608) – und dass sein Werk möglicherweise auch wertvolle Impulse für die heutige Zeit enthält, in der vermehrt der Zerfall der demokratischen Wertegemeinschaft und ein überbordender Materialismus beklagt werden.

Anmerkungen:
1 Gey, Gerhard: Die Armenfrage im Werk Jeremias Gotthelfs. Zu einer Frühform christlichen sozialpolitischen und sozialpädagogischen Denkens und Handelns. Münster 1994 (Sozialpädagogik / Sozialarbeit im Sozialstaat, Bd. 4).
2 Buhne, Reinhild: Jeremias Gotthelf und das Problem der Armut. Bern 1968 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur, Bd. 36).

Zitierweise:
Hofer, Markus: Rezension zu: Künzler, Lukas: Anerkennung vor Umverteilung. Zur sozialen Frage bei Jeremias Gotthelf, Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms 2020. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 3, 2022, S. 54-56.

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Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 3, 2022, S. 54-56.

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